Der Grundgedanke des Christentums und der ganzen Zeit vor und nach der Entstehung des Christentums war die Erlösung von dem „Götterwirrwarr“, mit dem das römische Reich sich umgeben und den es mit der Vergöttlichung (Apotheose) seiner Cäsaren auf die Spitze getrieben hatte. Diese Erlösung sollte ein Licht sein, das die ganze damals bekannte Welt erleuchtete.
Das Licht aber kommt, wie seine Hauptquelle, die Sonne, von Osten. Von Osten kam auch das Licht der Kultur; also schaute die nach einer Erlösung sich sehnende Welt nach Osten und erwartete ihr Heil von dort. Diese Sehnsucht nahm verschiedene Gestalten an, je nach dem Volkstum und je nach der Bildung innerhalb jedes Volkes Die Bedrückten sehnten sich nach Freiheit, die von wilden Leidenschaften umtobten nach Güte und Gerechtigkeit, die unter Kriegen leidenden nach Frieden, die von abergläubigem Götzendienst abgestoßenen nach einer reinen Gottheit. Bei den Juden hatte diese Sehnsucht schon zur Zeit der Propheten eine Gestalt angenommen, die des Messias, die aber noch lange eine bloß menschliche war. Seit der babylonischen Verbannung war diese Gestalt durch das Beispiel der persischen Religion idealer geworden. Der zoroastrische Gegensatz zwischen einer guten und einer bösen Welt hatte sie tief ergriffen und sich bei ihnen festgesetzt. Damit war auch der ihnen bis dahin unbekannte Begriff des „Weltgerichts“ bei ihnen heimisch geworden und die Gestalt des Messias hatte einen übermenschlichen Glanz angenommen. Die den Namen Daniel tragende Apokalypse (Offenbarung) ließ ihn auf den Wolken vom Himmel herabkommen wie den Saoschyant des Zarathustra. Von Engeln umgeben würde er ein Reich des Himmels errichten. Andere, apokryphische (nicht in den Kanon aufgenommenen) Apokalypsen malten diese Träume noch phantastischer aus. Besonders merkwürdig ist, dass darin der Messias als „zweiter Gott“ und „Gottes Sohn“ bezeichnet wurde. In diesen letzten vorchristlichen Zeiten war unter den Juden auch der Glaube an die Auferstehung eingedrungen; denn vorher hatten sie vom Jenseits nur schattenhafte Begriffe gehabt. Damit war eine Würdigung des Einzelmenschen und eine Rücksichtnahme auf ihn zur Geltung gekommen, die früher fremd gewesen war, da Jahwe bloß das Volk als Ganzes seiner Fürsorge wert gehalten hatte.
Nun war auch, seit Alexander dem Großen, das Griechentum dem Judentum, das ja bereits im ganzen Osten der Mittelmeerländer zerstreut war, näher getreten und war nicht ohne tiefe Einflüsse geblieben. Die Rauheit Jahwes näherte sich hellenischer Feinheit, seine Strenge der Güte, wie sie die griechischen Philosophen auffassten.
Eine Mischung persischer Theologie und griechischer Philosophie eignete sich auch der griechisch gebildete Jude Philon in Alexandria an und betrachtete die aus jenen beiden Quellen geschöpften Begriffe des „Wortes“ (logos) und der „Weisheit“ (sophia) als besondere Wesen oder Kräfte. Er nannte den Logos den Sohn Gottes und den Mittler zwischen Gott und Menschen, auch fasste er ihn als „Inbegriff aller schöpferischen Ideen“, beinahe ganz als alles das, was bei den Persern Mithras darstellte, auf. Philon spricht von der in Ägypten lebenden jüdischen Sekte der Therapeuten (Ärzte), die eine ähnliche Erscheinung waren, wie die von dem ebenfalls griechisch gebildeten jüdischen Geschichtsschreiber Josephos geschilderte Sekte der Essener oder Essäer (d. h. die Frommen) am Jordan. Sie beobachteten Keuschheit, lebten in Gütergemeinschaft, verwarfen den Eid und blutige Opfer und bildeten eine Art klösterlicher Genossenschaft. Beide Sekten pflegten Wohltätigkeit und Heilkunst und erwarteten ein nahes Ende der Welt. In all diesem entsprachen sie beinahe genau den ersten Christen. Noch eine ganze Menge anderer Sekten durchsetzte Westasien, die einem geheimen, aus babylonischen, persischen, jüdischen und griechischen Ideen zusammen gesetzten Glauben huldigten und gemeinsam Mandäer genannt wurden, aus denen in christlicher Zeit auch die Manichäer hervorgingen. Sie hoffen alle auf eine Erlösung aus Sünde, Knechtschaft, Armut und Unwissenheit durch ein halbgöttliches Mittelwesen, das sie den „zweiten Gott“, Gottes Sohn, Messias oder Christus (der Gesalbte) nannten.
Aber auch an einem leidenden und sterbenden Messias oder Gott war in vorchristlicher Zeit kein Mangel. Vom ägyptischen Osiris, vom syrischen Adonis, vom phrygischen Attis, vom persischen Mithras, vom kretischen Zeus gehen Sagen dieser Art um wie in Stellen der hebräischen Propheten Jesaia und Jeremia.
Diese Völker alle meinten damit ursprünglich die verblühende Natur und hofften auf deren Wiedererwachen im Frühling, die Juden später auf die wieder Erhebung ihres Volkes. Dieser Hergang wurde in manchen Kulten dramatisch dargestellt, wobei früher ein Mensch, später ein Bild die Stelle des Gottes oder Heilands vertrat.
Im Gegensatz zu diesen Sagen und Berichten vom Leiden und Sterben stehen jene von der Geburt und der Auferstehung eines Heilands oder Gottes.
Wunderbare Rettungen von Kindern gibt es in Menge. Man denke nur an Ödipus, Herkules, Kyros, Romulus, Moses. Auf wunderbare Weise geboren werden Buddha und Zarathustra. Sie beide werden auch vom bösen Geist verflucht. Auferstanden sind alle jene, deren Leiden und Sterben beklagt wurde, in den Himmel gefahren sind Enoch, Elia, Romulus. Dieser letztere Umstand konnte aber nur angenommen werden, solange die Menschen Himmel und Erde für zwei Gegensätze hielten und nichts von der Bewegung der Erde um sich selbst und um die sonne wussten. Wo ist denn, seitdem man dieses weiß, überhaupt der Himmel?
Kurz, es gibt kein Symbol des Christentums, das sich nicht schon in vorchristlicher Zeit nachweisen lässt.
Nach der Überzeugung vieler Forscher neuester Zeit ist das Leben Jesu überhaupt ein Symbol oder eine Dichtung.
„Rechtgläubige“ mögen darüber klagen; aber kein Selbstdenkender glaubt heutzutage mehr, dass ein Kind von einer unberührten Jungfrau geboren worden, dass Engel und Teufel sichtbar werden und in die Geschicke der Menschen eingreifen, dass Wasser in Wein verwandelt, Lebensmittel ohne Hinzutun frischer vermehrt und dass Tote auferweckt werden oder auferstehen können usw. Eine Lebensgeschichte, die solche Berichte enthält, kann auf keine geschichtliche Wahrheit Anspruch erheben. Wie kann also dieses Leben erzählt werden? Man hat es vielfach versucht durch Weglassen der Wunder. Aber ist dies nicht eine Willkürlichkeit? Das Ganze ist eine Überlieferung, die zusammengehört und es erscheint unkritisch, sie gewaltsam in zwei Teile, einen unwahrscheinlichen und einen wahrscheinlichen, zu trennen. Die freie Forschung hält die vier Evangelien für Erbauungsschriften, die, unter mancherlei Abweichungen, ein Bild entworfen haben, das, gegenüber den Missverhältnissen der Zeit seiner Entstehung, den frommen Seelen Hoffnung und Trost einzuflößen bestimmt war.
Entfernt man alles Unglaubliche aus dem Leben Jesu, so bleiben allerdings wundervolle Lehren, die zwar im ganzen dieselbe Moral enthalten, wie sie Khungfutse, Buddha, Sokrates, Seneca, Epiktet und Mark Aurel auch gelehrt haben, aber dann doch eine ganz eigenartige Weihe ausströmen, die weit über einer trockenen Sittenlehre steht. Die darin liegenden Gedanken müssen einen Charakter zum Urheber haben, der Seinesgleichen nicht hatte, aber leider so im Dunkeln geblieben ist, dass die gelehrten Juden Josephos und Philon nichts von ihm hörten. Aus den Worten aber, die ihm in den Mund gelegt werden, ertönt die Seele eines Tugendlehrers, eines Menschenfreundes, im schönsten Sinne, eines rührenden Kinderfreundes, eines sich selbst vergessenden Trösters und Helfers der Armen, Elenden, Leidenden und Gefallenen! Ein so edler Charakter kann nicht einfach erfunden werden!
Auf sichere Nachrichten über diesen edlen Charakter müssen wir freilich verzichten, aber auf seine Worte, wenn sie auch mit Wundern aus alten Mythen umhüllt sind, hat sich eine Religion und hat sich eine Kultur gegründet, die von den besseren Elementen ihrer Anhänger zu hoher Blüte gebracht worden ist, wenn ihr auch noch unendlich viel zur Vollkommenheit fehlt! Es ist ja möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass der erhabene Charakter, von dem die ergreifenden Reden herrühren, die Jesus zugeschrieben wurden, diesen damals häufig vorkommenden Namen (eigentlich Jesua oder Jeschua) führte. Ebenso glaubwürdig erscheint es, dass dieser Menschenfreund wegen Abweichung vom Judentum durch einen Justizmord gekreuzigt wurde; von einem „Opfertod“ aber aus freiem Willen kann für Denkende keine Rede sein; ein solcher müsste irgend einen Zweck haben; nun aber weiß die Geschichte nichts davon, dass ein Opfertod erreicht worden wäre.
Der unschuldig Gemordete hatte natürlich Jünger, die nach seinem Tod in alle Welt auszogen, um das erschienene Heil zu verkünden. Die Judenchristen, die nur an eine Reform des Judentums dachten, unterlagen den Heidenchristen, an deren Spitze der (vielleicht durch eine Vision) bekehrte griechisch erzogene Jude Saul aus Tarsos, nun Paulus genannt, die Weltmission in seine Hände nahm.
Er wandte sich an die Armen, die nach Geist und Erlösung vom Joch der römischen Machthaber dürsteten. Äußerst merkwürdig ist, dass er und seine Genossen überall, wohin sie kamen, schon Gleichgesinnte oder solche, die es gerne werden mochten, vorfanden. Muss man da nicht auf den Gedanken kommen, dass gerade in den Ländern, die von Palästina aus zuerst in Angriff genommen wurden, d. h. in dem großen „Hufeisen“, das Ägypten, Syrien und Anatolien (Kleinasien) bilden, die Mythe von einem leidenden, sterbenden und auferstandenen Messias oder Gott allbekannt war, hieß er nun Osiris, Adonis oder Attis – auch Mithras war ja in aller Munde -, und dass das arme, geknechtete Volk mit Begeisterung nach einem Gott griff, der diese schon längst geläufigen Mythen unter einem neuen Namen, dem Christos (Gesalbten, Heiland), zusammenfasste? So entstanden und wuchsen und blühten die Gemeinden der Christianer!
Es hieße die menschliche Natur und namentlich das Volksgemüt gründlich verkennen, wenn man glaubte, die einfach Lehre eines moralisierenden und rationalistischen Rabbi wäre im Stande gewesen, die Vielgötterei und Kaiservergötterung des römischen Reiches zu überwinden und zu ersetzen. Nein, dies konnte nur durch die frohe Botschaft von einem neuen Gott gelingen, der an die schon bekannten anknüpfte und sie in sich vereinigte.
Nachdem der außerordentliche Mann, der zu der Gestalt des Heilandes das Urbild darbot, aus dem Leben geschieden war, war er als Märtyrer eines hohen Strebens schon der Abgott seiner Jünger.
Der erste, der über ihn schrieb, Paulus, hatte ihn ja nie gesehen, sondern konnte nur sein bereits göttlich verehrtes Bild und begeisterte sich durch eine plötzliche Erleuchtung für den Beruf, dieser erhabenen Gestalt sein Leben und Wirken zu widmen. Der älteste Bericht über das Leben Jesu, der den Namen Markus trägt, war noch einfach, beinahe ohne Wunder. Je später aber die jüngeren Bearbeiter dieses Lebens schrieben, desto mehr wussten sie von Jesus, was ja in Wirklichkeit der umgekehrte Fall sein müsste. Der jüngste, Johannes genannt, wusste mehr von dem Mensch gewordenen Gott, dem Logos, als von einem wirklich Menschen.
Für das allmähliche Erweitern und Zusetzen sprechen schon die Titel der Berichte, die nicht von, sondern nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes geschrieben sind. Dabei widersprechen sie sich mehrfach. Matthäus und Lukas geben verschiedene Stammbäume und eine abweichende Jugendgeschichte wieder. Eine „Himmelfahrt“ kennt nur Lukas, doch kann man seine Worte verschieden verstehen!
Die ältesten Schriften des Urchristentums sind aber nicht die Evangelien, sondern die Briefe des Paulus, des eigentlichen Stifters der christlichen Gemeinschaft, Briefe, an deren Echtheit nicht zu Zweifel ist, soweit sie nicht an Einzelpersonen gerichtet sind. Die übrigen Apostelbriefe sind jünger und ihre Echtheit ist weniger sicher.
Das älteste Werk nach den Paulusbriefen ist leider die so genannte Offenbarung (Apokalypse) des Johannes, wir sagen leider, weil es ein Glück wäre, wenn sie uns fehlte. Diese, das Buch Daniel nachahmenden Fantasien eines gegen Rom erbitterten Juden, die nach dem Untergang Jerusalems christlich überarbeitet wurden, sind zwar vom Verfasser ernst gemeint, haben aber eine arge Menge religiösen Wahnsinns zu verantworten und tun dies heute noch!
Eine Menge anderer Schriften, Apokryphen genannt, sind nicht würdig befunden worden, in der Bibel zu glänzen.
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