Grundlagen zum Nibelungenlied
Die Geschichte der Nibelungen spielt wohl ab der Völkerwanderungszeit, wo man geschichtlichen Ereignissen die entsprechenden Geschehnisse in den Nibelungen zuordnen kann. So wird Attila der Hunnenkönig (gest. 453) in König Etzel dargestellt. Es gibt aber keine schriftliche Überlieferung des Nibelungenliedes aus dieser Zeit. So wurde das Nibelungenlied über Generationen weitererzählt und die erste Nibelungenschrift, die uns erhalten blieb, erst um 1200 niedergeschrieben.
Bild 93: Siegfried steht stolz mit seinem Schwert in der Hand über dem von ihm erlegten Lindwurm. Diese mag die wohl bekannteste Szene aus dem Nibelungenlied darstellen.
Die fahrenden Sänger waren die Träger des Heldengesanges und trugen die uralten Lieder von Siegfried und Gunther, Kriemhild und Brunhild, Hagen und Etzel weiter. Die Grundzüge der alten Nibelungensage blieben, aber sie wurde mit vielen Lebenserscheinungen der christlich-ritterlichen Zeit ausgeschmückt. Ewa um 1150 empfingen die Lieder den ihnen eigentümlichen Strophenbau (Nibelungenstropohe), und nun wurden sie zu einem großen Epos, dem „Nibelungenlied“ oder der „Nibelungen Not“, vereinigt. Dies geschah um 1200 in Österreich; durch wen, wissen wir leider nicht. Aus dem Nibelungenlied zeigen unsere Bilder fünf der bedeutendsten Szenen. Wir schildern die dargestellten Situationen unter Benutzung von Gotthold Klees deutschen Heldensagen.
Es existieren mehrere Versionen des Nibelungenliedes, je nachdem, wer es niederschrieb, so kann man nicht sagen, es gebe „Das Nibelungenlied“. In diesem Artikel wollen wir unseren jungen Lesern anhand von Bildern den ersten Teil des Nibelungenliedes, „Der Mord“, näher bringen. Den zweiten Teil, „Kriemhilds Rache“ werden wir zu späterer Zeit anfügen.
Unterschied zwischen Nibelungenlied und Nibelungensage
Wenn man von der Nibelungensage spricht, so meint man damit den „Grundstoff“, der in vielen Sagen, Liedern, Gedichten und Geschichten in Deutschland und Skandinavien im Mittelalter verarbeitet wurde. Diese Grundlage besteht aus sagenhaften Figuren (z. B. Siegfried oder der Zwerg Alberich) und Ereignissen (z. B. Siegfrieds Kampf mit dem Lindwurm). Die berühmteste Niederschrift der Nibelungensage ist das Nibelungenlied, das um 1200 entstand.
Der Text dieses Artikels baut auf dem Nibelungenlied aus dem 12. Jahrhundert auf. Details dieser Erzählung können abweichen von anderen Niederschriften. Übrigens ist „Der Ring des Nibelungen“ nur der Name einer Oper von Richard Wagner (besser gesagt ein Zyklus von 4 Opern), die den Stoff der Nibelungensage nochmal aufgreift, und sollte nicht auch noch mit den mittelalterlichen Texten verwechselt werden.
Das Volk der Nibelungen
Übersetzt aus dem Mittelhochdeutschen bedeutet Nibelungen „Söhne des Nebels“. Die Nibelungen haben ihren Namen von einem Volk, das zur Völkerwanderungszeit in Deutschland lebte. Welches Volk damit gemeint ist, darüber besteht keine Klarheit. Es gibt Hinweise auf die Franken, die Burgunder oder das Zwergenvolk, das den Nibelungenhort bewachte.
Die Tarnkappe
Die Tarnkappe ist keine Kopfbedeckung, wie oft fälschlicherweise angenommen wird. Der Name stammt von der mittelalterlichen Bezeichnung für Mantel oder Umhang (cappa). Somit ist die Tarnkappe ein Umhang, den der Zwerg Alberich trug, um sich unsichtbar zu machen. Alberich war der Behüter des Schatzes der Nibelungen (Nibelungenhort), doch Siegfried konnte ihm seine Tarnkappe entwenden und sie für sich benutzen. Die Tarnkappe war fortan also der Umhang Siegfrieds, mit dem er sich zeitweise unsichtbar machen konnte.
Siegfried
Siegfried war wohl ein kräftiger junger Mann, der Abenteuer suchte, als er seine Burg Xanten verließ. Das erste Abenteuer, das wir von ihm kennen, ist die Reise zum Nibelungenschatz (auch: Nibelungenhort) und der Kampf mit dem Lindwurm, den er schließlich besiegte und den Schatz eroberte. Der Kampf mit dem Lindwurm kann hier nachgelesen werden. Danach machte er sich auf nach Worms, wo die entzückende Kriemhild, Schwester König Hagens, lebte.
König Gunther entschließt sich, Brunhild zu heiraten
Siegfried war nach Worms gekommen, um Kriemhild zu umwerben und hatte ihre Liebe gewonnen. Auch König Gunther verlangte nach einer Gemahlin und beschloss, die Herrin des Isensteines im hohen Norden, die stolze Brunhild, als seine Königin zu küren. Da ging er zu Siegfried und sprach: „Willst du mir nun helfen, die minnigliche Jungfrau zu gewinnen?“ Da gedachte Siegfried an seine Liebe und antwortete schnell: „Gibst du mir deine Schwester Kriemhild zur Ehe, so will ich dir helfen. Das ist das einzige, was ich begehre.“ – „Es sei, wie du wünschest,“ rief der König froh, „in deine Hand gelob ich dir: Kommt Brunhild mit zu mir nach Worms, so will ich dir meine Schwester Kriemhild zum Weibe geben.“ Da schworen sich die beiden Helden Siegfried und Gunther heilige Eide und rüsteten sich zur Fahrt nach Skandinavien. Weil aber in Brunhilds Land zu allen Zeiten nur die besten Kleider getragen wurden, riet Hagen, Kriemhild um die Anfertigung guter Kleider für die Helden zu bitten.
Sechs Wochen lang arbeitete die Jungfrau im Frauenhaus mit ihren Mägden an den Kleidern, dann war alles bereit und die zwei Helden machten sich auf die Reise in den Norden.
Bild 97: Kriemhild inmitten ihrer Mägde beim Schneidern der Kleider für Gunther und Siegfried. Nach einer Zeichnung von E. Klimsch.
Brunhild wird durch eine List Gunthers Gemahlin
Auf dem Isenstein angekommen, gab sich Siegfried als Gunthers Dienstmann aus. Brunhild würde sich nur demjenigen hingeben, der sie im Kampf besiegte. Da Gunther alleine keine Chance gegen die kräftige Brunhild hatte, warf Siegfried seine Tarnkappe um sich und half Gunther unbemerkt im Kampf mit Brunhild, bis sie schließlich besiegt war. So kam sie mit nach Worms und die Hochzeit der beiden Paare, Gunther und Brunhild – Siegfried und Kriemhild, wurde mit aller Pracht gefeiert. Doch noch einmal musste Siegfried König Gunther helfen. In der Nacht wollte Brunhild nicht mit Gunther schlafen und er vollbrachte es nicht, sie dazu zu bringen. So sprang Siegfried, wieder unsichtbar durch seine Tarnkappe, ein und brach Brunhilds Stärke, indem er ihr einen Ring vom Finger zog und ihren Gürtel nahm. Nun war Brunhild schwach wie jedes andere Weib und Gunthers folgsame Gemahlin. Aber aus dieser Freundestat Siegfrieds erwuchs schweres Leid.
bild 103: Der edelmütige König Gunther mit seinen getreuen Brüdern Gernot und Giselher.
Der folgenschwere Streit zwischen Brunhild und Kriemhild
Zehn glückliche Jahre waren Siegfried und Kriemhild auf der Burg Xanthen am Niederrhein zusammen, da empfingen sie eine Einladung nach Worms. Sie kamen und ihnen zu Ehren wurde ein großes Fest gefeiert. Es war am elften Tage des Festes um die Vesperzeit. Auf dem Burghof trieben die kühnen Helden ihre Spiele, die beiden Königinnen sahen ihnen vom Fenster des hohen Saales zu. Sie rühmten ihre Gatten, welcher der stärkere wäre. Und Brunhild sprach: „Wie stattlich, schön und wacker dein Mann auch sein mag, so übertrifft ihn doch Gunther, dein edler Bruder; denn Siegfried sagte selbst, als er nach Isenstein kam, dass er Gunthers Dienstmann sei. Auf den Dienst eines solchen Helden will ich nicht verzichten, mit seinen Mann soll Siegfried mir dienen, weil es des Eigenholds Pflicht ist. Ich will sehen, ob man dir dieselben Ehren erweist wie mir.“
„Das soll geschehen,“ versetzte Kriemhild in hellem Zorn, „weil du meinen Gatten für einen Eigenhold erklärest, so sollen heute noch die Mannen beider Könige sehen, ob ich vor Gunthers Weib zur Kirche gehen darf.“ So trennten sich die beiden Königinnen in bitterem Hass.
Am Tor des hohen Münsters stand schon mit ihren Frauen und Rittern König Gunthers Weib Brunhild, als Kriemhilds Schar ankam. Nun trat Brunhild vor und rief verächtlich: „Steh still hier! Denn übel ziemt es sich, dass eine Magd vor ihres Königs Weib das Gotteshaus betrete.“ Das böse Wort war gesprochen, gesprochen vor der ganzen Menge der Mannen und Frauen. Da loderte auch Kriemhilds Zorn zu hellen Flammen auf und laut gab sie zur Antwort: „Dir wäre wahrlich besser, wenn du geschwiegen hättest. Zur eigenen Schande wird dir nun die Rede; denn eines Lehnsmanns Dirne ist kein Königsweib.“ – „Wen nennst du Dirne?“ rief die beschimpfte Brunhild aufschreiend. „Dich!“ versetzte Kriemhild außer sich vor Zorn, „denn Siegfried, nicht dein Mann, hat dir deine Stärke genommen.“ Brunhild stand wie betäubt, die Zunge wollte ihr schier den Dienst versagen, nur mühsam stammelte sie: „Wahrlich, das will ich Gunther sagen.“ Dann aber brach ihre Kraft und die stolze Frau weinte bitterlich; Kriemhild aber schritt an ihr vorbei mit allen ihren Frauen in den Dom. Weinend versuchten Brunhilds Dirnen ihre Herrin zu trösten, die schließlich den ungeheuren Schmerz bezwang und der verhassten Nebenbuhlerin ins Münster folgte.
Doch ihre Seele fand keine Andacht; sie vernahm weder des Priesters Worte, noch den Gesang der Gemeinde; von unsäglichem Leid schwoll ihr das Herz, gebrochen war ihr hoher Mut. Als endlich der Gottesdienst vorüber war, eilte sie rasch hinaus und blieb vor dem Eingang stehen. „Klarheit muss mir werden,“ so sprach sie zu sich selbst, „Rede und Antwort stehen soll mir das freche Weib, beweisen, weshalb sie mich vor aller Welt bezichtigt hat, und wehe Siegfried, wenn er sich dessen rühmte!“ Jetzt trat auch Kriemhild aus dem Münster; schweigend wollte sie an ihrer Feindin vorüber schreiten, aber diese versperrte ihr den Weg und begann: „Halt, Kriemhild, bleib hier stehen! Du kränktest mich mit bitterbösen Worten; nun sollst du mir beweisen, was dir ein Recht dazu verlieh!“ – „Lass mich lieber gehen!“ antwortete Kriemhilde, „sieh diesen Goldring, der vormals dir gehörte und jetzt an meinem Finger steckt.“ – „Ha,“ höhnte die Königin, „den Reif erkenn’ ich wohl; vor langer Zeit wurde er mir gestohlen; nun wird mir ja bewusst, wer der Dieb ist.“ – „Nicht ich!“ rief Kriemhild empört, „du hättest schweigen sollen, wenn dir deine Ehre lieb war! Sieh hier, der Gürtel um meinen Leib mag es dir beweisen, dass ich die Wahrheit sagte! Siegfried, mein Mann, entwand ihn dir, als er, statt Gunther, deine Stärke brach!“ Mit diesen Worten kehrte sie Brunhild den Rücken und ging mit ihrem Gefolge hinweg.
Bild 92: Brunhild streitet sich mit Kriemhild am Tor des Münsters in Worms. Nach einem Gemälde von F. Kirchbach.
Lange stand die Königin in starrem Schweigen, schwere Tränen rollten über ihre totenbleichen Wangen. Mit klangloser Stimme sprach sie zu ihren Frauen, die sie ängstlich umringten: „Ruft Gunther, den Fürsten vom Rheine, zur Stelle. Sogleich will ich ihm verkünden, wie seine Schwester mich beschimpfte.“ Es dauerte nicht lange, bis der König kam; als er seine Gemahlin in Tränen sah, sprach er besorgt: „Liebe Herrin, sage mir, wer tat dir etwas zu Leide?“ – „Ich muss wohl traurig sein,“ versetzte sie, „deine Schwester beraubt mich aller Ehre, sie sagt, ich sei die Dirne Siegfrieds, ihres Mannes.“ – „Sehr übel tat sie daran!“ rief Gunther erschrocken. Doch Brunhild fuhr schnell fort: „Sie trägt mein goldenes Ringlein und meinen Gürtel, der mir einst verloren ging. Siegfried, so sagte sie, nahm ihn mir, als er statt deiner mich bezwang. Nun, König, schirme mich vor Schande, damit ich nicht den Tag verfluche, der mich mit dir verband!“
Die Ermordung Siegfrieds
Von dieser Stunde an redeten die beiden Frauen nicht mehr miteinander. In tiefe Trauer versunken, saß Brunhild in ihrem Gemach, das Herz von Jammer, Wut und finsteren Rachegedanken erfüllt. Da trat Hagen herein und ihm klagte sie ihre Not. Und als er seine Herrin weinen sah, gelobte er ihr, dass es Kriemhilds Mann büßen solle, oder er wolle nimmer wieder fröhlich sein.
Bild 95: Der Lindwurm oder auch Drache wird von Siegfried dem Drachentöter aus seiner Höhle gelockt um den Kampf auf Leben und tod zu beginnen. Nach einem Gemälde von H. Hendrich
Hagen wusste wohl, dass es schwer sei, den Recken Siegfried zu überwinden; aber durch List bewog er die angstvolle Kriemhild, dass sie ihm verriet, wo Siegfried verwundbar war. „Merke wohl auf meine Rede,“ sprach sie in leisem Flüsterton, „als einst der kühne Held den Lindwurm erschlug, da badete er sich im Blut des Ungeheuers, so dass seine Haut stark und fest wurde, gleich dem Schuppenpanzer des Drachen, und seitdem kein Schwert ihn verwunden kann. Und dennoch, wenn ich ihn im Kampfsturm weiß, bin ich stets voll Sorge, dass mir ein Speerwurf den teuren Gatte nraube. Ach, wie viel Angst ertrug ich schon um ihn! Darum, lieber Freund, vertrau’ ich dir getrost nun mein Geheimnis an, damit du deine große Treue an mir gedankt bekommst: als Siegfried sich im Blut des Drachen badete, da fiel ihm zwischen die Achseln ein breites Lindenblatt. Sieh, diese Stelle blieb vom Blut unberührt und darum auch verwundbar; das ist es, was mein Herz beständig bange macht, dass eines Feindes Speer einmal diese Stelle trifft.“ Da sprach der Untreue: „So nähet ein kleines Zeichen auf sein Gewand, daran ich leicht erkennen mag, wo ich ihn am meisten im Kampf beschützen muss.“ – „Das will ich tun,“ antwortete sie arglos, „mit seiner Seide näh’ ich ein kleines Kreuzlein auf sein Gewand. Dort, guter Held, behüte mir den Trauten wohl, wenn ihr im Schlachtengetümmel steht.“ – „Liebe Herrin,“ versetzte der tückische Hagen, „das gelob ich dir!“ Darauf verabschiedete er sich von ihr und ging fröhlich fort. Sie aber tat, wie der Verräter ihr gerten hatte und wirkte, blind vor ängstlicher Liebe, mit eigenen Händen in ihres Gatten Kleid das unheilvolle Zeichen.
Auf einer Jagd im Odenwald sollte Siegfried sterben. Im Wettlauf mit Gunther und Hagen eilte Siegfried zu einem Brunnen, er errang den Sieg. Als er sich bückte, um das kühle Wasser zu trinken, ergriff Hagen das Schwert und den Bogen des Helden und schaffte sie beiseite. Dann lief er zurück, fasste den Speer und sah das Kreuzlein in Siegfrieds Kleid. Arglos schlürfte der Held das labende Getränk. Da schleuderte Hagen mit furchtbarer Kraft den Speer; mitten durch das Kreuz fuhr das mörderische Eisen und durchbohrte Siegfrieds Rücken und seine Brust. Hoch spritzte das Blut aus der Wunde auf Hagens Kleid. Wie rasend sprang der Getroffene auf, den Speerschaft im Herzen. Er wollte nach Schwert und Bogen greifen, doch der Mörder hatte sie ihm entwendet. Er wehrte sich mit seinem Schild, doch seine Kraft brach. Nun verstummte sein Mund; weit umher waren Gras und Blumen vom Blut befleckt, Siegfried war tot.
Bild 94: Hinterrücks wird Siegfried der Drachentöter von Hagen ermordet. Die Flucht Hagens vor dem schwer verletzten Siegfried soll seine Feigheit verdeutlichen.
Als die Jagdgenossen sahen, dass der starke Siegfried gestorben war, legten sie ihn auf seinen rotgoldenen Schild und hielten Rat, wie es verborgen bliebe, dass Hagen ihn ermordet hatte. „Verschleiern wir die leidvolle Schmach,“ riefen etliche, „lasst uns sagen, Räuber hätten den Helden erschlagen, als er allein den Wald durchzog.“ Aber der grimme Hagen rief: „Ich bring’ ihn selber heim. Was kümmert mich, ob Kriemhild es erfährt? Sie hat meiner Herrin so bitteres Leid angetan; nun ist’s mir gleich, ob sie selbst in Gram vergeht.“ Da harrten sie, bis der Abend niedersank. Dann zogen sie mit der Leiche des großen Helden Siegfried heimwärts.
Bild 98: Im ersten Teil der Nibelungen steht der Tod Siegfrieds im Mittelpunkt, um den sich Tragödien und Intrigen spinnen. Hier wird der zuvor ermordete Siegfried von seinen Jagdgenossen nach Hause getragen. Von Julius Schnorr von Carolsfeld.
Als sie in später Nacht nach Worms kamen, da legte Hagen den toten Siegfried vor Kriemhilds Kammer, damit sie ihn fände, wenn sie am Morgen herausträte. Die Morgendämmerung kam, vom Münster läutete die Glocke und rief zur Mette. Da stand die junge Königin mit ihren Frauen auf, legte ihr Morgengewand an und befahl, ein Licht zu bringen. Bald eilte der Kämmerer mit einem Licht in der Hand zu Kriemhilds Gemach; doch als er vor die Türe kam, sah er zu seinem Entsetzen einen Leichnam liegen, der überall mit geronnenem Blut bedeckt war. Bleich und zitternd trat er ein und sprach zur Königin: „Ich bitt’ Euch, Herrin, geht nicht jetzt zum Münster! Verweilet noch ein wenig hier, während ich die Knechte rufe, dass sie den Toten forttragen, der vor Eurer Kammer liegt.“ Ein grässlicher Schrei durchschnitt die Luft, Kriemhild sank bewusstlos zur Erde. Jammernd lief ihr Gesinde herbei und besprengte die Ohnmächtige mit kaltem Wasser. – Als Kriemhild die Sinne wiedererlangte, richtete sie sich langsam auf und flüsterte dumpf vor sich hin: „Ich weiß, es ist Siegfried, mein lieber Mann!“ Dann durchschritt sie rasch das Gemach, öffnete die Tür und kniete bei dem Toten nieder. Sie hob sein schönes Haupt mit ihrer weißen Hand. Ach, wie das Blut sein Antlitz auch entstellte, sie erkannte ihn doch sogleich: Siegfried, der teure Held, lag kalt und starr vor ihr. Da benetzte sie mit heißen Tränen das bleiche Angesicht und klagte aus tiefstem Herzensgrund: „Weh, ach weh des bitteren Leides! Nicht von Schwertern ist dir der Schild zerhauen; ermordet bist du, süßer Mann! Ha, wüsst’ ich, wer die Tat vollbrachte, ich sänn’ ihm auf Rache bis an meines Lebens Ende.“ Als der heilige Morgen angebrochen war, ließ die arme Königin ihren toten Mann zum Münster tragen. Weinend folgten ihre Frauen und Mannen, denn alle hatten den edlen Herrn lieb gehabt.
Kriemhild erkennt den wahren Mörder ihres Mannes
Als die Bahre im Dom stand, kam auch König Gunther mit den Seinen. „Liebe Schwester,“ sprach er zu Kriemhild, „mich jammert sehr dein großes Leid. Um Siegfrieds Tod müssen wir immer klagen.“ Da antwortete die Schmerzensreiche: „Das tut Ihr ohne Grund. Hättet Ihr es nicht gewollt, es wäre nie geschehen, was geschah! Ihr selber habt mir meinen trauten Mann geraubt.“ Da leugneten sie alle und beschworen ihre Unschuld. Sie aber sprach: „Wer sich rein von Schuld weiß, der trete hier vor allem Volk zur Bahre, auf dass man die Wahrheit klar erkennen mag!“ Sie taten alle nach ihrem Geheiß; als aber Hagen, der grimme Held, herantrat, da geschah ein großes Wunder: des Toten Wunden brachen auf und bluteten so stark, als hätte ihn eben erst der mörderische Speer getroffen. Da wusste Kriemhild, wer ihn erschlagen hatte. Gunther war rasch vor die Bahre getreten, um dem Volk das fließende Blut zu verbergen und sprach laut: „Ich schwör es dir, Räuber haben den Helden im Wald getötet; Hagen ist unschuldig an diesem Mord.“ Da sagte sie nur: „Ja, ich kenne die Räuber wohl. Gott gebe, dass mir einst an ihnen Rache wird!“
Bild 96: Hagen wird von Kriemhild des Mordes an ihrem Gatten Siegfried bezichtigt. Nach einem Gemälde von E. Lauffer.
Im weiteren Verlauf des ersten Teiles des Nibelungenliedes wird der Schatz der Nibelungen, der Nibelungenhort, nach Worms gebracht. Dann endet dieser erste Teil. Der zweite Teil des Nibelungenliedes trägt den Titel „Kriemhilds Rache“ und man kann sich vorstellen, dass die spannende Sage hier einen weiteren Höhepunkt erfährt, der für jedermann lesenswert ist. Wir werden die verkürzte Fassung des zweiten Teiles in naher Zukunft an diesen anfügen.
Quelle:
Gelungene Zusammenfassung der Sage!
Es ist mein zauber buch