Heldendichtung im frühen Mittelalter
Das Hildebrandslied
Dies ist Geschichte von Hildebrand, aufgeschrieben ca. 820 n. Chr.:
Hildebrand ist ein großer Krieger, der geehrte Kampfgefährte seines Herrn Dietrich. Als dieser vom ostgotischen König Odoacer aus seiner Heimat in Italien vertrieben wird, flieht er mit ihm, doch er muss seine junge Frau und seinen gerade geborenen Sohn zurücklassen:
he furlaet in lante luttila sitten
prut in bure, barn unwahsan,
arbeo laosa…
(Er ließ im Land in ärmlichen Verhältnissen seine Braut zurück, und sein kleines Kind, beraubt seines Erbes…)
30 Jahre lebt er im Exil am Hof des Hunnen Attila und wird während dieser Zeit niemals im Kampf besiegt. Dann kehrt Dietrich mit Hildebrand und einem Heer in sein Heimatland zurück, um Odoacer sein Land wieder abzunehmen. Auf dem Kampfplatz treffen sie auf das feindliche Heer, und Hildebrand als bester Kämpfer soll mit dem jugendlichen Helden der Gegenseite kämpfen. Dieser heißt Hadubrand, und Hildebrand erkennt sofort, dass es sich um seinen Sohn handelt, den er zurücklassen musste. Er will nicht gegen ihn kämpfen, denn dies ist sein einziger Sohn, aber er hat eine Pflicht seinem Herrn gegenüber. Er versucht Hadubrand zu erzählen, dass er sein Vater ist, und will ihm einen goldenen Armreif schenken, aber Hadubrand glaubt ihm nicht. Er hat gehört, dass sein Vater tot ist, im Kampf gefallen, und hält seinen Gegenüber für einen listigen Hunnen, der ihn hereinlegen will. Und so muss Hildebrand sein grausames Schicksal annehmen und entweder selbst im Kampf fallen oder seinen Sohn töten.
Die erste der beiden Pergamentseiten, auf denen das Hildebrandlied aufgeschrieben ist.
Hier endet die Überlieferung. Wie die Geschichte ausgeht, wissen wir nicht; aber da sie aus der Sicht von Hildebrand erzählt ist, muss er derjenige sein, der überlebt. Dies ist das einzige uns überlieferte Heldenlied in altdeutscher Sprache. Es gibt andere Gedichte in altdeutscher Sprache, und andere Heldenlieder in anderen Sprachen, aber dies ist das einzige seiner Art. Warum? Was ist Heldendichtung, warum wurde sie so spärlich überliefert, und wie wurde sie überhaupt überliefert?
Was ist Heldendichtung?
Im Zentrum eines Heldenlieds steht ein Held (oder auch mehrere), ein hervorragender Kämpfer, dessen Reputation und Ehre oder Besitz auf dem Spiel steht. Oft muss er sich zwischen Pflicht und Freundschaft entscheiden, zwischen Loyalität gegenüber seinem Herrn und einer Liebes- oder Verwandtschaftsbeziehung. Er hat seine Fehler: Hochmut oder Unbeherrschtheit, und er muss ein schweres Schicksal ertragen. Beispiele sind – neben dem Hildebrand aus der oben erzählten Geschichte – Ingeld aus der altenglischen Beowulf-Geschichte, Siegfried aus dem Nibelungenlied, Dietrich von Bern und Wieland der Schmied. Diese Sagengestalten haben oft eine historische Grundlage: so war der Dietrich aus der obigen Geschichte Theoderich, ein gotischer König in Italien. Es handelt sich aber nur um Geschichten, nicht historische Geschichte: Theoderich kann in Wirklichkeit niemals an Attilas Hof gewesen sein, da ihre Lebenszeiten sich nicht überschneiden.
Es handelte sich bei diesen Geschichten um mündliche Dichtung. Man kann sich das so vorstellen, dass ein Barde (damals Skop genannt), dem versammelten Haushalt oder Hof zur Unterhaltung altbekannte und beliebte Geschichten vortrug. Er sang oder sprach in Versen und vielleicht mit Harfenbegleitung. Wieviel davon wirklich so war, wissen wir nicht, aber aus der Luft gegriffen ist dieses Bild auch nicht: Die Harfe wird in angelsächsischen Gedichten aus dieser Zeit erwähnt und scheint bei der Unterhaltung eine Rolle gespielt zu haben. Es sind auch mehrere Gedichte dieser Art im Stabreim überliefert (zum Stabreim siehe Exkurs). Allerdings wurden sie nicht in Deutschland aufgeschrieben (bis auf die eine Ausnahme des Hildebrandslieds), sondern in England, auf Altenglisch. Das Beowulflied ist eines davon, und dieses Gedicht ist von dem Musiker Benjamin Bagby wiederbelebt worden. Er hat erarbeitet, wie der Vortrag eines Heldengedichts hätte aussehen können, wie man im folgenden Ausschnitt aus einem seiner Vorträge sieht.
Benjamin Bagby singt einen Ausschnitt aus dem altenglischen Heldenlied „Beowulf“
Man kann diese Heldenlieder, den Beowulf und das Hildebrandlied, gut miteinander vergleichen, denn die Kultur und die Sprache der Angelsachsen und der Menschen auf deutschem Gebiet waren sich sehr ähnlich.
Die Überlieferung von Heldenliedern
Wie gesagt, handelt es sich bei Heldenliedern ursprünglich um mündliche Dichtung. Wieso haben wir dann schriftliche Überlieferungen? Weil hin und wieder eine Geschichte oder ein Gedicht aufgeschrieben wurde. Das klingt in der heutigen Zeit selbstverständlicher, als es damals war. Die wenigsten Leute konnten damals schreiben, und wer es konnte, war mit großer Wahrscheinlichkeit ein Mönch. Ein Mönch sollte aber etwas besseres zu tun haben, als heidnische Heldensagen aufzuschreiben! Schon allein weil das Pergament sehr kostbar war, aber auch, weil die Kirche das heidnische Kulturgut durch christliches ersetzen wollte. Sie hatte kein Interesse daran, diese Geschichten zu erhalten. Gelegentlich wurde aber doch etwas aufgeschrieben, oft in die Ecken und auf die Ränder eines Manuskripts. Das Hildebrandlied z.B. steht auf den beiden Außenseiten eines lateinischen Manuskripts. Die Mönche waren nämlich auch nur Menschen und ließen sich gerne von den alten Geschichten unterhalten. Sie liebten diese Art der Unterhaltung oft mehr, als sie sollten, wie man aus überlieferten Ermahnungen herauslesen kann.
Und so schrieben sie einiges auf – wobei es nach der Aufschrift natürlich nicht mehr mündlich war. Das Hildebrandlied ist z.B. eine (schlechte) niederdeutsche Abschrift eines bayrischen Originals, das davor vermutlich von einer alt-lombardischen und davor von einer gotischen Quelle abgeschrieben wurde. Dabei wurde der Text verstümmelt: die Stabreimstruktur stimmt teilweise nicht mehr, die Mischung aus den verschiedenen Dialekten ist seltsam, und es fehlen Teile – wie wir gesehen haben, auch das Ende der Geschichte.
Dass das Hildebrandlied mündlich war, sieht man an typischen Wendungen, die in mündlicher Dichtung vorkommen. Das erkennt man, wenn man es mit altenglischen Gedichten aus dieser Zeit vergleicht, oder auch mit mündlicher Dichtung aus unserer Zeit. Im 20. Jahrhundert gab es in Osteuropa noch Geschichten-Sänger, die alte, mündlich überlieferte Geschichten spontan in Verse fassten. Dabei merkt man, dass bestimmte Ausdrücke und die Art, wie die Gedichte aufgebaut sind, für mündliche Dichtung typisch sind. Der Sänger dichtet dabei ohne schriftliche Hilfe, vielleicht sogar spontan, aus dem Augenblick heraus. Damit das schnell und einfach geht, wurden bestimmte Formeln immer wieder verwendet. Sie drücken etwas Typisches (wie eine Vorbereitung zum Kampf) im richtigen Rhythmus und (Stab-)Reim aus, und helfen damit dem Sänger, schnell und mühelos zu dichten.
Ein Beispiel dafür lässt sich in der altenglischen Dichtung finden, den Gedichten, die wir „The Seafarer“ und „The Wanderer“ nennen. Es handelt sich hier zwar nicht um Heldengedichte, sie sind ihnen aber sehr ähnlich.
Im Wanderer heißt eine Zeile:
ond þas stormas stanclifu beotan
(und die Stürme schlugen die Steinklippen)
Im Seafarer gibt es eine Zeile, die sehr ähnlich ist:
Stormas þær stanclifu beotan
(Die Stürme da schlugen die Steinklippen)
Hier handelt es sich wohl um einen Standardsatz, den ein mündlicher Dichter immer dann einfügen konnte, wenn er passte. Das Publikum wusste dann sofort, was gemeint war, welche Stimmung erzeugt werden sollte, da dieser Satz wohl immer im gleichen Zusammenhang verwendet wurde. Die beiden Gedichte, der Wanderer und der Seafarer, benutzen also Techniken, die man beim mündlichen Dichten verwenden würde. Wie so eine spontane, echte Heldendichtung in Deutschland im frühen Mittelalter aussah, können wir also nur ahnen – aber dass wir gar nichts wissen, kann man auch nicht behaupten.
Waltharius
Ein weiteres großes deutsches Heldenlied gibt es, die Geschichte von Waltharius:
Die Hunnen unter Attila fallen in die Königreiche der Franken, Aquitanier und Burgunder ein. Diese ergeben sich und schicken als Sicherheit je eine Geisel an den Hof Attilas: Hagano (Hagen), Waltharius und Hiltgunt, alle drei junge Verwandte der jeweiligen Herrscher. Sie werden dort gut behandelt, aber als Haganos Vater stirbt, zahlt der Nachfolger keinen Tribut mehr. Haganos Leben ist nun in Gefahr, er muss fliehen! Waltharius und Hiltgunt, die inzwischen verlobt sind, fliehen ebenfalls. Sie machen Attila bei einem großen Fest betrunken machen und nehmen große Mengen Schätze mit. Hagano ist inzwischen wieder in seiner Heimat Franken angelangt. Der neue Herrscher von Franken hört von Waltharius und Hiltgunt, die mit ihren Schätzen auf dem Weg nach Hause sind, und will sie überfallen. Dabei muss Hagano gegen seinen Willen mitmachen – Pflicht geht über Freundschaft. Hagano und Waltharius sind beide große Kämpfer, und beide tragen schwere Wunden davon, bis sie den Kampf aufgeben und sich versöhnen. Sie teilen den Schatz, und Waltharius und Hiltgunt herrschen dreißig Jahre lang über Aquitanien.
Dieses Gedicht ist sehr viel länger als unser kleiner Ausschnitt aus dem Hildebrandlied: 1450 Zeilen statt 68. Obwohl es vermutlich etwa zur gleichen Zeit aufgeschrieben wurde, ist es viel tiefer in der christlichen Kultur verankert als das Hildebrandlied, denn es ist von einem Mönch verfasst worden. Die Sprache ist nicht Althochdeutsch, sondern Latein. Dazu muss man wissen, dass Latein die Sprache der Gelehrten war – also derer, die schreiben konnten. Alle Wissenschaft und gelehrte Kultur fand im 9. Jahrhundert (und noch viele folgende Jahrhunderte) auf Latein statt. Das hatte den Vorteil, dass die Gelehrten in ganz Europa eine gemeinsame Sprache hatten. Das Althochdeutsche war nicht einmal eine einzige Sprache, sondern bestand aus vielen einzelnen Dialekten, und war als die Sprache der Bauern und Ungelehrten nicht hoch angesehen. Deshalb wurde das meiste, was in dieser Zeit aufgeschrieben wurde, auf Latein geschrieben. Und so ist auch Waltharius ein auf Latein gedichtetes Heldenlied. Die Geschichte, die hier nacherzählt wird, war weithin bekannt und gründet vermutlich (wie das Hildebrandlied) auf germanischer Stammesgeschichte. Sie war auch in anderen Kulturen bekannt: eine angelsächsische Quelle enthält einen Teil der Geschichte, und im Nibelungenlied wird auf Hagens fehlenden Kampfwillen eingegangen.
Heldenlieder faszinieren uns, und viele hoffen, durch sie einen Blick in unsere heidnische Vergangenheit werfen zu können. Das ist auch zweifellos möglich. Wir sollten uns aber bewusst sein, dass es ein Blick um viele Ecken herum ist. Wir schauen durch die Brille einer ganzen Reihe von christlichen Mönchen, die etwas schrieben, was ihr Abt vermutlich nicht gutheißen würde, in die Ecke eines offiziell anders genutzten Pergaments. Wir sehen das Zeugnis einer Kultur, die wahrscheinlich schon am Aussterben war.
Exkurs: Stabreim und Langzeile
Das Hildebrandlied ist, wie auch viele altenglische Heldenlieder in Stabreimen und Langzeilen geschrieben. Eine Langzeile besteht aus zwei Halbzeilen – man sieht das hier durch den Abstand der beiden Hälften. (Im Original wurde ein Gedicht normalerweise einfach in einem langen Fließtext aufgeschrieben, um Pergament zu sparen.) Diese beiden Halbzeilen beziehen sich aufeinander durch den Stabreim der wichtigsten Wörter.
Zwei Wörter sind durch Stabreim verbunden, wenn sie mit den gleichen Buchstaben oder Lauten beginnen. Das ist anders als in dem bei uns üblichen Endreim, bei denen die Laute am Ende gleich sein müssen. In dem kleinen Ausschnitt aus dem Hildebrandlied sind das
lante – luttila
bure – barn
und in den Zeilen aus den altenglischen Gedichten
stormas – stanclifu
Wenn man das beim Rezitieren hervorhebt, merkt man, dass der Stabreim zusammen mit dem Rhythmus der Halbzeilen einen sehr starken Effekt hat, der sich zum Erzählen eignet.
Quellen:
- German Lit. of the Early Middle Ages, Kapitel Heroic Verse, Brian Murdoch
- Ältere deutsche Literatur, Gert Hübner
Über die Autorin
Regina Schmidt ist die Sängerin der Early Folk-Band Short Tailed Snails und das Zentrum des Ensembles La Lauzeta. La Lauzeta widmet sich der einstimmigen Musik des Mittelalters: Minnesang und die Lieder der Troubadoure, die einstimmigen Virelais von Guillaume de Machaut, Pilgerlieder, Volkslieder und liturgische Gesänge. Außerdem beschäftigt sie sich mit altenglischer und althochdeutscher Dichtung aus dem frühen Mittelalter.